Freitag, 5. Juni 2009

Eine Kugel für den Führer: Fritz Langs MANHUNT


Manhunt (Menschenjagd) – USA 1941 – Regie: Fritz Lang – Drehbuch: Dudley Nichols nach dem Roman Rouge Male von Geoffrey Household – Produzent: Kenneth Macgowan – Kamera: Arthur C. Miller – Schnitt: Allen McNeil – Musik: Alfred Newman – Darsteller: Walter Pidgeon (Captain Alan Thorndike), Joan Bennett (Jerry Stokes), George Sanders, John Carradine, Roddy McDowall, Ludwig Stössel, Carl Ekberg (A. Hitler in einigen Einstellungen; ergänzt um dokumentarisches Archivmaterial) u.a. – Format: Academy-Normalformat, 35 mm – Länge: 102 min. – Verleih (USA): Twentieth Century-Fox, ab 13.6.1941.
Der Anfang ist brillant, zudem unerreicht dreist: Ein Mann mit geschultertem Gewehr schleicht durch einen Wald, der ein wenig an den Studiowald aus Schoedsacks und Pichels The Most Dangerous Game (1932) erinnert (der im Übrigen 1933 in King Kong recycelt wurde). Insbesondere die Assoziation zu dem 1932er-Klassiker bietet sich an, jagt doch dort ein irrer russischer Aristokrat zur Unterhaltung auf seiner tropischen Privatinsel Menschen, spielt eben jenes most dangerous game, das bald in den Dialogen von Langs Film thematisiert werden wird. Doch noch befinden wir uns in diesem dichten, rankenden Wald, von dem wir nicht wissen, wo er sich überhaupt befindet – auf einer Tropeninsel auf jeden Fall nicht. Der Mann jedenfalls pirscht sich weiter vor, entdeckt dann scheinbar eine Beute, die es wert ist, ihr seine ganze Aufmerksamkeit zu widmen. Vorsichtig bettet er sich in das Laub, blickt durch das Zielfernrohr – und im Fadenkreuz erblicken wir mit ihm Adolf Hitler.


Das ist zunächst ein Schock, zumal es wirklich Hitler ist und kein Double, denn Lang greift für diesen Auftritt des Diktators auf Archivmaterial zurück. Einen Tyrannenmord, selbst einen filmischen, begeht man nicht an einem Double, sondern gleich am Original. Man sollte es ernst meinen. Das weiß unser von Walter Pidgeon gespielter Jäger allerdings leider – noch – nicht. Denn der beginnt, nachdem er die Distanz des Zielfernrohrs justiert hat, erst einmal umständlich Zeit zu schinden. Dabei zögert er nicht, er hadert auch nicht mit seinem Gewissen (warum auch? – er hat ja Hitler im Zielfernrohr): Vielmehr trödelt er herum, so dass man annehmen muss, er nehme das Ganze nicht allzu ernst. Und tatsächlich: Als er endlich abdrückt, klackt der Bolzen nur auf eine leere Kammer. Man kann sich in diesem Moment nur allzu gut vorstellen, wie das Publikum, als der Film im Juni 1941 von der Twentieth Century-Fox in die Kinos der Vereinigten Staaten gebracht wurde, an dieser Stelle die Leinwand beschimpfte. Doch es besteht noch Hoffnung. Der Mann überlegt und scheint zu realisieren, was er bewirken kann. Er lädt das Gewehr neu. Aber er hat seine Chance verspielt, eine Patrouille stellt ihn und bringt ihn in ein Chateau, das wohl die Wolfsschanze sein soll. Hier erfahren wir, dass er wirklich ein britischer Gentleman ist, der aus Jux und Tollerei ausprobiert wollte, ob es möglich wäre, den deutschen „Führer“ zu erschießen. Der deutsche Offiziersstiernacken, der ihn befragt, hat dafür durchaus Verständnis, die Menschenjagd als perverser kick, das ist ihm vertraut. Ein falsches Geständnis möchte er trotzdem, um die britische Diplomatie unter Druck zu setzen (an diesem Punkt des Films ist der Krieg noch nicht ausgebrochen). Danach wird Thorndike, so heißt der Brite, wohl einen Unfall haben. Es folgt, was der Titel verspricht: Der Brite kann fliehen, schlägt sich von Bluthunden gejagt bis nach Hamburg durch, setzt als blinder Passagier nach England über, wo er – hier wird der Film dezidiert paranoid – an jeder Ecke von deutschen Agenten gejagt wird (wir vergegenwärtigen uns: sein Name ist Thorndike, was man mit Dornengraben übersetzen könnte). Zusammen mit dem unvermeidlichen love interest (Joan Bennett) kann er schließlich aber jeden Angriff überstehen und – nun wird der Film wiederum propagandistisch – tritt nach Kriegsausbruch in die RAF ein und springt mit einem neuen Gewehr über Deutschland ab. Das nächste Mal, so fasst die voice-over seinen Lehrprozess pädagogisch zusammen, werde er nicht zögern.
Langs Film ist auf mehreren Ebenen bemerkenswert. Da ist zunächst einmal sein Charakter als Zeitdokument, als welches er anschaulich belegt, worin sich alliierte und deutsche Propaganda unterschieden. Klaus Theweleit hat diese Unterschiede in der aktuellen Spex (am Rande eines Artikels zum fünfundsiebzigsten Geburtstag von Donald Duck) kurz beschrieben. Die deutschen Heroen opfern sich todessehnsüchtig auf. Das mag im Krieg sein, aber einem deutschnationalen Regimemelodramatiker wie Veit Harlan gelang es sogar, selbst die Ehe zu einem Opfergang [1944] zu stilisieren. Im Gegensatz hierzu berufen sich die britisch-amerikanischen, wahlweise amerikanisch-britischen Helden nicht oder nur spät und oft unwillig auf die Pflicht fürs Vaterland, sie müssen erst mit anschaulichen Argumenten überzeugt werden, es wählt sie kein dunkel raunendes Schicksal aus. Manhunt bestätigt diese Beobachtungen.
Aber Langs Film ist nicht nur ein Dokument der alliierten Propaganda. Manhunt ist auch ein streckenweise geradezu paradigmatischer Film Noir, also ein visuelles Dokument seiner Zeit. Insbesondere in seinem in Amerika errichteten und mit stock footage ergänzten England findet Lang zu einer Bildsprache, die die Paranoia des von Deutschland entfesselten Weltkrieges und ihre Auswirkungen in der Zeit des nazistischen Terrors ins filmische Bild transformiert. Da findet Lang neben den durch starkes Seitenlicht bewirkten Schlagschatten zu ganz ungewöhnlichen, spiralförmig in sich gekrümmten Bildern, die eine Innenwendung suggerieren, existenziellen Zweifel, Angst und Misstrauen veräußerlichen. Als Thorndike vor einem Verfolger in einen U-Bahnschacht flüchtet, gestaltet Kameramann Arthur C. Miller etwa ein Bild, das an den Blick durch den Lauf einer Pistole erinnert. Später wird das Bild variiert, wenn Thorndike durch ein Loch im Felsen blickt und erstmals gezielt einen Menschen töten muss.


Natürlich ist Manhunt auch ein Film von Fritz Lang, in dem sich einige der typischen Themen des Regisseurs wiederfinden (wahlweise ist er natürlich auch ein Film mit Walter Pidgeon, dem heute weitgehend vergessenen Darsteller, der in über 130 Spielfilmen auftrat und in Quo Vadis [1951] dann den anonymen Erzähler gab). Gilles Deleuze hat bei Lang, ähnlich wie bei Orson Welles, etwas gefunden, was er als eine „Kritik des Urteilssystems“ umschrieben hat. Deleuze schreibt in Das Zeit-Bild – Kino 2:
„Bei Lang [...] ist die Möglichkeit des Urteilens in Frage gestellt. In Bezug auf Lang könnte man sagen, daß es keine Wahrheit mehr gibt, sondern lediglich Erscheinungen. Der amerikanische Lang wurde der größte Filmregisseur des Scheins und der falschen Bilder [...]. Alles ist Schein, und dennoch transformiert dieser Zustand das Urteilssystem – es ist eine Transformation und weniger eine Aufhebung. [...] Die größten Momente bei Lang sind stets diejenigen, in denen sich eine Figur selbst verrät. Der Schein verrät sich, aber nicht weil eine tiefere Wahrheit an seine Stelle träte, sondern weil sie sich einfach als nicht-wahr enthüllen: die Figur begeht eine Dummheit, sie kennt den Vornahmen des Opfers (Beyond a Reasonable Doubt [Jenseits allen Zweifels; 1956]) oder sie versteht Deutsch (Hangmen Also Die! [Auch Henker sterben; 1943]).“ (Deleuze 1997: 183f.).

Dabei treffen Deleuzes Beschreibungen durchaus auch auf Manhunt zu, dabei insbesondere auf die Eröffnungssequenz und den Schluss. So finden sich der „Schein“ und die „falschen Bilder“ in der Eröffnungssequenz in den montierten Bildern von Hitler in dem falschen Chateau ebenso wie in dem falschen Tyrannenmörder, der sich als naiver Tölpel erweist. Welche größere Dummheit kann eine Figur in einem amerikanischen Film von 1941 begehen, als diejenige, die historische Chance zu verspielen, Hitler zu ermorden, und – aus blasierter Langeweile zudem! – zu vertrödeln. Doch, so fährt Deleuze fort:
„Unter diesen Bedingungen bleibt es möglich, daß ein neuer Schein auftreten kann, an dem der erste gemessen werden kann und beurteilt wird. [...] Das Urteilssystem erfährt somit eine beachtliche Transformation, weil es in die Bedingungen eingeht, die die Verhältnisse bestimmen, von denen der Schein abhängt: Lang gelangt zu einem protagoreischen Relativismus, dem zufolge das Urteil den ‚besten’ Standpunkt ausdrückt, das heißt die Perspektive, unter der die Chance besteht, dass sich der Schein zugunsten eines Individuums oder einer wertvolleren Menschheit ,wenden’ wird (das Urteil als ,Rache’ oder Verschiebung des Scheins). [...] Das Urteilssystem [kann], auch wenn es in die Krise gerät, doch gerettet und verändert [werden.]“ (ebenda).

Erst das Zögern, die anschließende Hetzjagd durch Deutschland und England, die Erfahrung von unerwarteter Solidarität in Gestalt einer jungen Britin aus der Unterschicht und dann der ungewöhnliche Showdown im Wald, wo unser Held zum gefangenen Tier degradiert, seinen Jäger mit einem selbst gebauten Bogen erledigen (oder: erlegen) kann, machen aus ihm einen Menschen, der in der Situation vom Anfang ohne Zögern handeln würde. Mehr noch: nun wird er eine solche Situation sogar aktiv suchen. Insoweit ist die Krise, in die der Protagonist gerät, überhaupt erst der Auslöser für ihn, seine Klassen- und Bewusstseinsschranken zu überwinden und zum Helden zu werden. Das heißt in einem amerikanischen Film natürlich, ein Mann der Tat zu werden. Im Rückblick bleibt auch dies jedoch gebrochen, wissen wir doch, dass er nicht erfolgreich gewesen sein kann – außer wir sind bereit, wie Tarantino in seinem kürzlich in Cannes erstaufgeführten Inglourious Basterds (2009), die Geschichte als Was-wäre-Wenn umzudenken und anzunehmen, er habe bis 1945 gebraucht. Das ist zumindest eine amüsante Fiktion.



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