Dienstag, 24. August 2010

Guys on a Mission: THE EXPENDABLES


The Expendables


Mit dem Kino verhält es sich ähnlich wie mit der Mode: früher oder später kommt alles zurück. Jede alte Masche wird ausgegraben, jeder Stil neu aufgelegt, dabei freilich den Koordinaten zeitgenössischer Befindlichkeit angepasst. Die Sechziger und Siebziger erlebten ihr Revival mit mehr oder weniger gelungenen Remakes von ehemaligen Blockbustern wie Ocean’s Eleven (1960/2001), The Italian Job (1969/2003), The Longest Yard (1974/2005). Jetzt sind offenbar die Achtziger dran. Ganz oben auf der Retro-Welle schwimmt Sylvester Stallone, der mit Rocky Balboa (2006) und John Rambo (2009) kürzlich seine erfolgreichsten Filmserien recycelt hat.

Sonntag, 15. August 2010

Der Müll, die Stadt und der Tod: Dino Risis ANIMA PERSA


Anima Persa / Âmes perdues (Lost Souls) – F-I 1977 – Regie: Dino Risi – Buch: Dino Risi, Bernardino Zapponi, nach einem Roman von Giovanni Arpino – Kamera: Tonino Delli Colli – Musik: Francis Lai – Schnitt: Alberto Gallitti – Produzenten: Pio Angeletti, Adriano De Micheli – Darsteller/innen: Danilo Mattei (Tino), Vittorio Gassman (Fabio Stolz), Catherine Deneuve (Sofia Stolz), Anicée Alvina (Lucia), Michele Capnist (Il Duca), Ester Carloni (Annetta) u.a. – Studio: Dean Film, Les Productions Fox Europa – Format: VistaVision (1,96:1), 35 mm – Länge: 100 min. – Erstaufführung: 20.01.1977 (Italien).


Venedig trägt, wie so oft im Kino, Trauer. Pittoresk modern die Gebäude, das Wasser der Lagune schimmert trübe, Müll treibt obenauf. „Wie schmutzig unsere Stadt geworden ist!“, klagt einer der Protagonisten in Dino Risis Anima Persa (Lost Soul; 1977). Und, ja, die Stadt ist schmutzig, und sie birgt obendrein allerlei dunkle Geheimnisse ihrer Bewohner. Venedig als Gemütszustand, als trist-morbider Sumpf, der wahlweise Kinder oder deren Eltern in den Tod reißt: So hat bereits Nicolas Roeg Venedig in seinem Meisterwerk Don’t Look Now (Wenn die Gondeln Trauer tragen; 1973) eingesetzt, einem britisch-italienischen Thriller mit Giallo-Motiven. Vor ihm hatte unter anderem Aldo Lado hier seine exquisit fotografierte Mörderhatz Chi l’ha vista morire? (The Child - Die Stadt wird zum Alptraum; 1972) gedreht, von der sich Roeg ganz offensichtlich inspirieren ließ. Auch Viscontis Morte a Venezia (Tod in Venedig; 1971) zelebrierte den dekadenten Verfall, das Siechtum aufs Raffinierteste ästhetisiert und bis zum Exzess überhöht. Selbst ein Amerikaner wie Paul Schrader, ein Calvinist zudem, sollte zwei Dekaden später in The Comfort of Strangers (Der Trost von Fremden; 1990) Venedig auf diese Weise inszenieren, auch wenn er den Piazze wenigstens einen Hauch Strahlkraft zugesteht. Mörderisch war das Treiben der Venezianer auch bei ihm freilich, sein Film zudem fast epigonal auf Roegs stilprägenden Thriller bezogen.

Im Gegensatz zu all diesen Regisseuren, Europäern wie Amerikanern, ist Dino Risi (1916-2008)
vor allem als Komödienregisseur bekannt. Von ihm stammen Filme wie Una vita difficile (1961), Il sorpasso (Verliebt in scharfe Kurven; 1962) und I mostri (1963) sowie Profuma di donna (Der Duft der Frauen; 1974), Kassenschlager allesamt zu ihrer Zeit. Dass er sich in den späten 1970ern, also zur gleichen Zeit, als Dario Argento sein blutiges Technicolor-Meisterwerk Suspiria (1977) inszenierte, an einem Horrorfilm versucht, erscheint nur auf dem ersten Blick ungewöhnlich. Letztlich erzählen auch die italienischen Komödien immer von Mord und Totschlag, Krankheit, Verfall und Elend, Krieg und Katastrophen. Der Humor der Commedia all’italiana war immer nachtschwarz. Ein wenig hiervon hat Risi auch in seinen boshaften, antibourgeoisen Horrorfilm hinüber gerettet, der Luis Buñuel und den Surrealisten in vieler Beziehung näher steht, als den Filmen von Mario Bava, Dario Argento oder Lucio Fulci.

Anima Persa beginnt mit morbiden Stadtimpressionen Venedigs, aus einer motorisierten Gondel aufgenommen. Die Kamera führt Tonino Delli Colli, einer der bedeutendsten Kameramänner Italiens (1922-2005), der zwischen 1944 und 1997 mehr als 130 Filme fotografiert hat, darunter Klassiker wie Leones Il Buono, il Brutto, il Cattivo (Zwei glorreiche Halunken; 1966) und Once Upon a Time in America (Es war einmal in Amerika; 1984), experimentelle Genrefilme wie Elio Petris Un Tranquillo posto in campagna (Das verfluchte Haus; 1968) und Kunstfilme von Fellini und Pasolini. Delli Collis Kamera zeigt uns die Rückkehr eines verlorenen Sohns Venedigs, des noch jugendlich wirkenden Tinos (Danilo Mattei), der nach Jahren zu Tante und Onkel zurückkehrt, um in der Lagunenstadt die Malerei zu erlernen. Ungläubig starrt Tino die Stadt an, die Villen der Reichen, ihre Palazzi, die korrodierten Oberflächen, die barocken, vom sauren Regen zerfressenen Verzierungen. Wer hier wohne, fragt er den Gondoliere. „I genti“, entgegnet dieser. Die aber blieben nur in ihren Häusern, ergänzt er. Und tatsächlich, die Häuser, die an der schwankenden Kamera vorbeiziehen, wirken ein wenig wie modernde Särge – Venezia, città dei morti viventi.


Diesem dem Tod geweihten Großbürgertum gehört offensichtlich Tinos Tante Sofia (ätherisch: Catherine Deneuve) an. Auch sie verlässt so gut wie nie das Haus, und hält es in ihrer Wohnung doch kaum länger als ein paar Minuten in einem Raum aus. Wie getrieben eilt sie bei Tinos Ankunft durch die weitläufige Villa, lockt ihren Neffen hinter sich her, durch immer neue Räume, einer grotesker und größer als der andere, bis ins eheliche Schlafzimmer. Ein unausgesprochenes Angebot steht im Raum, zumal ihr Mann außer Hause weilt. Oder kokettiert die junge Ehefrau nur ein wenig mit ihrer Ausstrahlung auf einen noch jüngeren Mann? Vieles erscheint merkwürdig in diesem Haushalt. Auch die Haushälterin (Ester Carloni), die wir am ersten Abend kennenlernen, ist ein Faktotum, eine komische Alte mit kieksiger Stimme, die einem derben Bauernschwank entsprungen sein könnte. Nur wenig erfahren wir hingegen über Tinos Onkel. Er trägt den für einen Italiener recht ungewöhnlichen Namen Stolz. Der Signore mit dem deutschen Namen – angeblich stammt er von den Habsburgern ab – arbeitet bei den Gaswerken, auch das ein böser Scherz. Bei der Tour durch das nur teilrestaurierte Haus („Look at the decay!“) erfährt Tino zudem von einer Treppe zu einer verbotenen Kammer. Und nachts spielen die Ratten auf dem Klavier, wenn sie über die Tasten rennen. Über dem Zimmer des Jungen erklingen seltsame Geräusche. Dass dies nur das Holz sein soll, das in dem alten Palazzo arbeitet, will der Junge der Tante nicht glauben. Zu Recht.


Ist die Tante mit ihren nervösen Tics und dem Sauberkeitsfimmel schon zwanghaft, da erweist sich Onkel Fabio (Vittorio Gassman) als gänzlich neurotisch. Bereits am Bett predigt er seinem Neffen Platon und die Vorzüge militärischer Disziplin. Später zitiert er Hölderlins Das Angenehme dieser Welt: „Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gern!“ Ob das nicht schön klänge, auf Deutsch?, fragt er den Neffen. Obendrein schwärmt Fabio von den pittoresken Morden, die Venedig in den letzten Jahrzehnten zu bieten hatte. Beim Stadtbummel reißt er dann einen Hippie an dessen langen Haaren. Wer bis jetzt noch nicht verstanden hat, dass der Mann ein autoritärer Charakter ist, wird es wohl nie bemerken. Tino jedoch scheint dies kaum zu berühren, er richtet sich in dem seltsamen Umfeld provisorisch ein, neugierig, aber auch ein wenig distanziert, fast so, als ob er auf einem fremden Kontinent einen noch unbekannten Stamm erforscht.


Tinos eigentliches Studienobjekt aber ist der weibliche Körper, das macht der Film schnell deutlich. Neben seiner Tante lernt Tino gleich am ersten Tag in der Kunstklasse das studentische Aktmodell Lucia (Anicée Alvina) kennen, und natürlich verguckt er sich sogleich in sie. Auch steht das Haus, also der Ort, auf den Tino neben den beiden Frauen den Großteil seiner Neugierde aufbringt, im Horrorfilm per se für den weiblichen Körper, zumindest in der psychoanalytischen Lesart des Genres. Beides kommt schließlich zusammen, wenn Tino in Abwesenheit seiner Ersatzeltern zusammen mit Lucia lustvoll das geheimnisvolle Haus erforscht, inklusive einer Commedia dell’arte-Einlage auf der hauseigenen Theaterbühne, auf der beide gemeinsam einen Lazzo aufführen. Danach stürzen sie in Slapstickmanier aus dem Raum, in einen offenbar seit langem unberührten Kinderraum, voller Puppen und Kleider. Dort werden sie dann von der Verwandtschaft in flagranti ertappt. Dabei wirkt das Geschehen zusehends, als würden Onkel und Tante alles für den Neffen inszenieren; erst das Haus verlassen, um ihn dann zu ertappen und so ein Art perverser Familienaufstellung einzurichten. Fabio könnte dabei direkt Buñuels El (1953; Er) entsprungen sein und Sofia, nicht nur durch die Besetzung mit der Deneuve, Belle de Jour (1967). Am Ende überbietet Risi allerdings selbst Buñuels bürgerliche Perversionen und deckt ein dunkles Familiengeheimnis auf; Inzest, Päderastie und Schizophrenie. Danach verlässt Tino Venedig wieder auf dem gleichen Weg, auf dem er es erreicht hat, immer noch unberührt, kaum verändert, höchstens etwas älter.



Abgesehen von dem ungewöhnlichen Plot, seiner traumartigen Atmosphäre und der dezidiert unrealistischen Auflösung ist Anima Persa vor allem ein visuell beeindruckender Film, der anfangs subtil, dann immer unnachgiebiger die Grenzen einer rein rationalen Erzählung aufgibt. Delli Collis Kamera erforscht das Haus mittels eleganter Fahrten und Schwenks, die Lichtsetzung evoziert das Chiaroscuro Caravaggios. Einige Bilder und Sequenzen sind unvergesslich: Etwa wenn Onkel und Neffe auf das Meer hinaus fahren, an einem riesigen, verfallenden Öltanker vorbei, der wie ein urzeitlicher gestrandeter Wal wirkt. Die barocke Einrichtung einzelner Räume sowie das labyrinthische Haus sind höchst einprägsam; in einer Bar scheinen die Gäste wie zu Salzsäulen versteinert; einmal starrt die Kamera wie eine Spinne aus einer Ecke von der Decke herab auf die im Wohnzimmer versammelte dysfunktionale Familie. Abgesehen von solchen Sequenzen gelingt es Risi, vom schwermütig-surrealen Anfang bis zum boshaft-ironischen Ende, den eigentlich recht einfachen Plot mit einer Unzahl von Schlenkern, falschen Fährten und Abweichungen zu erzählen und damit jede Erwartung zu unterlaufen. Letztlich erweist sich Anima Persa nicht als Horrorfilm, sondern als anspielungsreicher dunkel-ironischer Bildungsroman sowie als Parodie aufs Genre, die gänzlich ohne Morde und übernatürliche Elemente auskommt. Neben den genannten Werken Viscontis, Lados und Roegs ist Risis Film obendrein einer der schönsten (das heißt: hässlichsten) Venedig-Filme der Filmgeschichte. Sehr zu unrecht ist er heute weitgehend vergessen, trotz seiner starken Besetzung mit Vittorio Gassman und Catherine Deneuve, trotz der Beteiligung von Delli Colli und Risi, trotz seiner Qualität. In Deutschland hat der durchaus seriöse Film den unfassbar peinlichen Verleihtitel Ejakulat des Grauens erhalten. Der Verleiher muss besoffen gewesen sein. Auch das hat der Film nicht verdient.